Triage - schlimmer als Corona?

Letzte Woche schreckte ein Bericht die Menschen auf. Deutsche Ärzte waren im Auftrag des Innenministeriums Baden-Württemberg nach Straßburg gefahren um sich über die Behandlung von COVID-19-Patienten zu informieren. Und natürlich über die Herausforderungen und Risiken. Natürlich kam das Ergebnis auch an die Presse. Und auch Medien, die ich sonst eher als nüchtern und sachlich bewerte, stellten einen Aspekt in den Mittelpunkt: Über 80jährige Patienten würden nach Triage nicht mehr intubiert und mit Morphin in den Tod begleitet. Sehr oft tauchte dies schon in der Überschrift auf. Bei der aktuellen Unsicherheit und dem Informationswirrwarr wurde dieser Punkt von vielen aufgenommen. Und auf einmal sieht sich medizinisches Personal, das noch kurz zuvor beklatscht wurde, in der Situation, als "Opa- und Omamörder" hingestellt zu werden. Emotion schlägt Hirn. Mal wieder.  

Eine der Schlagzeilen zum Thema

Ich will zu diesem Thema ein wenig Klarheit schaffen.

Triage
Oft liest man in Posts oder Tweets "Hoffentlich kommt es nicht zur Triage." Das ist Blödsinn. Triage ist im Grunde ein alltäglicher Vorgang. Der Begriff kommt aus dem Französischen und aus der Militärmedizin. Um den Zusammenhang mit dem Militär zu vermeiden, hat man sich in Deutschland auf den Begriff "Sichtung" geeignet. Triage oder Sichtung "passiert" jeden Tag. Komme ich mit dem Rettungswagen als erstes an eine Situation mit mehreren Verletzten, muss ich schon entscheiden, welchen Patienten ich als erstes versorge und wie ich die nachfolgenden Rettungsmittel den Patienten zuordne. 
Oder noch alltäglicher: In der Ambulanz im Krankenhaus wird inzwischen fast überall vorgesichtet. Deshalb wird man dort nicht nach Reihenfolge des Eintreffens sondern nach Schwere der Erkrankung oder Verletzung aufgerufen. Das gilt übrigens auch wenn man per Rettungswagen dort eingeliefert wird. Es ist Irrglaube, zu erwarten, man käme per RTW schneller dran.
OK, bei dieser Art der Sichtung wird die Behandlungspriorität gesichtet. Aber sie ist ein normaler Vorgang. 

Sichtung mehrerer "Verletzter" bei einer Übung

Über Leben und Tod entscheiden
Auch das ist ein völlig alltäglicher Vorgang in der Medizin. Erst recht in der Intensivmedizin. Aber auch präklinisch haben wir das oft. Traurige Realität: Das Leben endet mit dem Tod. Das ist so. Fakt. Tatsache. Daran lässt sich nichts mehr rütteln. Leider ist das vielen nicht mehr wirklich bewusst. 
In meinem Intensivpraktikum im Rahmen meiner Rettungsdienstausbildung brachten uns die Kollegen des Rettungsdienstes eine 90jährige Patientin mit "Zustand nach erfolgreicher Reanimation". Die Patientin war beim Frühstück mit ihrer Tochter mit einem Herzkreislaufstillstand zusammengebrochen. (Un)glücklicherweise waren Rettungswagen und Notarzt unweit der Einsatzstelle gerade frei. Die junge Notärztin war richtig stolz. Es war ihre erste primär erfolgreiche Reanimation. Wir hatten dann größte Mühen, die Patientin zu behandeln. Sie wehrte sich, musste fixiert und medikamentös beruhigt (sediert) werden. Und so starb sie dann eben auf der Intensivstation. Seither frage ich mich immer wieder, wenn wir Patienten versorgen oder gar reanimieren, ob das wirklich im Sinne des Patienten ist. Diese Frage stelle ich mir persönlich. Mein Job ist es, Leben zu erhalten - oder zumindest alles dafür zu tun. Ich habe aber auch schon gar nicht erst angefangen, zu reanimieren. Weil die Gesamtumstände dagegen sprachen. Selbstverständlich immer in meinem Kompetenzrahmen und mit Bestätigung des Notarztes. Das sind immer wieder individuelle Entscheidungen. Der Patient, die Umstände, mögliche Vorerkrankungen... Solche Entscheidungen über Leben und Tod sind nicht leicht, wenn man sie selber treffen muss. Hier werbe ich auch für die Erstellung einer Patientenverfügung. Sie hilft Angehörigen und medizinischem Personal. 

Übung: Die Sichtungsergebnisse werden dokumentiert.

Morphin
Weil dieses Medikament ebenfalls in diesem Zusammenhang genannt wird: Morphin ist ein bei Beatmungspatienten regelmäßig eingesetztes Medikament. Es nimmt Schmerzen, beruhigt und erleichtert die Atmung. Näher will ich darauf gar nicht eingehen. 
Das Medikament wird primär also nicht gegeben, um Menschen ohne Beatmung "beim Sterben zu helfen", sondern zur Behandlung der beatmeten Patienten. Allerdings würde es beim nicht beatmeten Patienten tatsächlich dessen Beschwerden erleichtern und bei höherer Dosierung zu einem würdigen Sterben beitragen. 

Ein verunsicherter Tweet

Alter als "Kriterium des Todes"? 
Bitte haltet euch vor Augen, dass Menschen, die in der Medizin, Pflege, Rettung etc. tätig sind, dies tun, weil sie Menschen helfen und Leben erhalten wollen. Das ist auch bei einer Vielzahl an Erkrankten oder Verletzten der Fall. Wenn die Ressourcen knapp werden, muss ggf. tatsächlich priorisiert werden, wer die maximale Therapie erhält. Da ist das Leitkriterium der "Outcome", also das erwartete medizinische Gesamtergebnis. Wenn also nur ein Behandlungsplatz für zwei Patienten vorhanden wäre, würde man den vorher gesunden Patienten ohne Vorerkrankungen dem mit massiven Vorerkrankungen den Vorzug geben. Vermutlich ist ersterer der jüngere Patient. 
Auch in Frankreich werden nicht einfach alte Menschen dem Sterben überlassen. Die Entscheidung trifft dort auch nicht ein einzelner Arzt oder Sanitäter sondern jeweils eine Ethikkommission. Dort wird intensiv jeder Fall besprochen und dann entschieden.


Fazit
Niemand will, dass es soweit kommt, dass aus Mangel an Behandlungsplätzen unpopuläre Entscheidungen getroffen werden müssen. Dazu können wir durch unseren aktuellen sozialen Rückzug beitragen. Und durch husten und niesen in die Ellenbeuge etc.
Außerdem sind Behörden und Hilfsorganisationen gerade in ganz Deutschland aktiv um Vorbereitungen zu treffen, eine mögliche Erkrankungswelle so aufzufangen, dass es zu  möglichst keinem Mangel kommt. Ja, es rächt sich jetzt, dass das Gesundheitssystem so kaputtgespart wurde. Aber wir haben in Deutschland immer noch eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Und es arbeiten ganz ganz tolle und engagierte Menschen in diesem System.    
Und was überhaupt nicht hilft, ist sich am Panikpopulismus zu beteiligen, wie er immer mal wieder in den Sozialen Netzwerken vorkommt. Sprecht über Befürchtungen und Ängste, aber beteiligt euch nicht an der Verbreitung von Panikmeldungen. Die machen Angst, lähmen, aber helfen niemandem.    

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